Wenn die Zahl auf der Waage dein Leben bestimmt

Es liegt in deiner Hand, dich zu befreien

Ich führte ein Leben in Gefangenschaft, ganze 11 Jahre lang. Mein Gefängnis war die Essstörung. Und die strengste Gefängniswärterin war – ich selbst.

Es gab bessere und schlechtere Zeiten innerhalb dieses Gefängnisses, doch auch die guten Phasen waren immer noch schlecht genug, um fliehen zu wollen. Nach 11 Jahren konnte ich fliehen, das ist jetzt 4 Jahre her und seitdem bin ich nicht mehr zurückgegangen. Ich weiss aber noch, als wäre es gestern gewesen, wie es sich in dieser Gefangenschaft anfühlt. Diese Erinnerung erzeugt den Wunsch in mir, all jene, die sich noch in dem Gefängnis, das sich Essstörung nennt, befinden, mit diesem Artikel wachzurütteln, sie daran zu erinnern, dass es einen Weg heraus gibt und dass nur sie allein die Macht besitzen, diesen Weg zu gehen.

 

Guter oder schlechter Tag?

Kennst du das Gefühl, dass die morgendliche Zahl auf der Waage vorgibt, wie du dich am restlichen Tag fühlen wirst? Die Zahl ist die Basis dafür, ob du glücklich bist, dich selbstbewusst und leicht fühlst oder ob der Tag schon gelaufen ist, bevor er überhaupt angefangen hat, je nach dem wie tief oder hoch die Zahl auf der Anzeige ist.

Natürlich wiegst du dich nicht vor dem ersten Toilettengang und hast vor dem Wiegen alle Ringe, Haarbänder und Klamotten abgelegt, schliesslich bist du kein/e Anfänger/in. Nichts, aber auch wirklich nichts darf dein aktuelles Gewicht verfälschen.

Einmal auf die Waage steigen reicht dabei meist nicht, vor allem wenn das Ergebnis nicht gefällt. Die Waage wird dann hin und her geschoben, man geht noch einmal zur Toilette, steigt wieder auf die Waage, steigt wieder herunter und wieder herauf, bis man nicht darum herumkommt als das Ergebnis zu akzeptieren. Und was sagt die Waage heute? Heute ist ein schlechter Tag.

 

Nur die Hülle zählt

Kennst du das Gefühl, dass dich antreibt, möglichst perfekt auszusehen? Kennst du die Empfindung, Menschen würden dich vor allem aufgrund deines Äusseren cool finden? Kennst du das Gefühl, dass deine Hülle für dich und andere deinen Wert bestimmt?

Du interessierst dich zwar irgendwie für gesunde Ernährung, aber eigentlich weisst du in ruhigen Momenten selber, dass das, was du tust alles andere als gesund ist. Du siehst dich auch gerne als eine sportliche Person, die Freude am Sport hat.

Doch im Grunde genommen ist dir selber klar, dass du gar keine Freude am Sport hast. Du hast Freude, wenn du dein Workout geschafft hast. Dann hast du Freude. Währenddessen denkst du nur daran durchzuhalten und du denkst an Essen. Du treibst dich selber an, obwohl dir eigentlich nach Aufgeben zu Mute ist. Doch aufzugeben ist keine Option, denn du willst noch dünner sein. Das ist dein einziges Ziel, warum du überhaupt Sport machst. Es geht nicht um Fitness, es geht darum weniger zu werden.

 

Keine Angriffsfläche

Kennst du das Gefühl, dass du dich unangreifbar fühlst, wenn Leute dir sagen, du seist zu dünn oder du sollest mal etwas essen. Vertrittst du innerlich die Ansicht, dass je dünner du bist, du umso weniger Angriffsfläche bietest?

Aussagen dieser Art empfindest du als Kompliment und nicht als Kritik. Schon interessant, wenn man bedenkt, dass sie doch genau das darstellen. Doch du befindest dich im gedanklichen Gefängnis aus «Je dünner, desto besser», weshalb du sie als positive Bestätigung verstehst, denn ein «zu dünn» gibt es in deiner Welt nicht.

«Lieber zu wenig als zu viel» denkst du dir, denn du möchtest auch im wortwörtlichen Sinne, möglichst wenig Angriffsfläche und möglichst wenig Raum für Kritik bieten.

Äusserungen, wie «Du bist zu dünn» interpretierst du nicht nur als Kompliment, sondern schätzt sie auch, weil sie verdeutlichen, dass dein Leid gesehen wird. Manchmal tut dir dieses Gefühl ganz gut, zu wissen, dass andere sehen, dass bei dir eben doch nicht alles in Ordnung ist. Obwohl du die meiste Zeit über versuchst, genau diesen Eindruck zu erwecken.  

 

Mittel der Emanzipation

Kennst du das Gefühl, die Dinge kontrollieren zu wollen? Dich abgrenzen zu wollen?

Zumindest zeitweise hast du im Rahmen der Essstörung das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben und unglaublich willensstark zu sein. Denn du braucht all die Süssigkeiten, all die Chips und Pommes nicht, weil du so selbstdiszipliniert bist.

Bis… Ja, bis dein Körper sich zumindest einen Teil der Kalorien, die du ihm vorenthalten hast in möglichst komprimierter Form im Rahmen eines Essanfalls wieder hereinholt. Danach fühlst du dich undiszipliniert und schuldig. Also versuchst du möglichst schnell zur Selbstdisziplin zurückzukehren. Doch der nächste Essanfall kommt bestimmt, denn das ist der Weg deines Körpers das System am Leben zu erhalten. Und so bleibt du im Teufelskreis aus Hungern und Essanfällen gefangen.

Und auch wenn du tief im Innersten weisst, dass du in diesem Teufelskreis feststeckst, definierst du dich ein Stück weit über diese Sucht. Wer wärst du ohne diese Sucht? Einfach ganz normal wie jede/r andere?

Deine Sucht und dich verbindet eine Hassliebe. Die Sucht bietet dir Freiheit, denn nur du kannst entscheiden, was und wie viel du isst und weder deine Eltern, dein/e Partner/in, noch deine Freunde können darauf wirklich Einfluss nehmen. Du emanzipierst dich von ihnen. Das ist deine Art von Freiheit, wenngleich du währenddessen in deinem ganz eigenen Gefängnis gefangen bist.

Mit deiner Sucht grenzt du dich ab, manchmal fühlt sich das gut an. Nämlich, dann, wenn du alles unter Kontrolle hast. Und dann wieder fühlt es sich einfach nur schlecht an, wenn du die Kontrolle verloren hast und wünschtest der Sucht entfliehen zu können. Denn dann wird dir wieder klar, was sie tatsächlich ist: dein selbst erbautes Gefängnis.

 

Kurzfristiges Abnehmen

Priorität hat für dich deine äussere Erscheinung, welchen Preis du dafür zahlst, rückt dabei meist in den Hintergrund. Obwohl du schon dünn bist, treiben dich die nächste Partynacht, eine Familienfeier oder Fotoshootings an, noch weniger zu essen, um für diese Events noch dünner zu sein. Was du deinem Körper damit antust, willst du dir gar nicht so genau ausmalen.

Du redest dir dein Verhalten auch ein bisschen damit schön, dass du, wenn du denn isst, gesund isst. Abgesehen natürlich von den Fressanfällen, denn während du sie hast, verlierst du völlig die Kontrolle. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass der Körper nur nach kaloriendichter Nahrung schreit, um den Organismus weiter am Laufen halten zu können. Ob die Kalorien dabei aus gesunder oder ungesunder Quelle stammen, ist an dieser Stelle für den Körper sekundär.

Gedanken darüber, dass es schon ein wenig dekadent ist, in der Ersten Welt zu hungern, obwohl man doch genug Nahrung zur Verfügung stehen hätte, während anderer Orts Menschen aufgrund von Nahrungsknappheit verhungern, schiebst du von dir. Sie belasten dich nur zusätzlich und erinnern dich zu sehr daran, dass du auf dem falschen Weg bist.  Nicht nur in moralischer Hinsicht, sondern ebenso, da diese Gedanken dir vor Augen führen, dass man auf längere Sicht an Hunger sterben kann. Genauer gesagt, dass auch Du auf lange Sicht an Hunger sterben könntest.  

 

Break – I need a Break

So, jetzt habe ich mich gedanklich genug in mein früheres essgestörtes Ich hineinversetzt. Ich spreche zwar dich an, aber eigentlich rede ich doch von mir, von meinen früheren Gedanken, meinen damaligen Gefühlen. Vielleicht, und das wäre der unschönere Fall, findest du dich in den vorherigen Zeilen wieder.

Ich weiss nicht, wie es dir geht, aber mir haben diese Zeilen schlechte Laune bereitet. Sie haben mich traurig gemacht, weil sie mich an eine Zeit erinnern, die nun zum Glück schon vier Jahre zurückliegt. Eine Zeit, die mich geprägt hat. Eine Zeit, in der ich gefangen war, in meinem ganz eigenen Gefängnis aus Gedanken, Restriktionen und fehlender Selbstliebe.

Ich kann meinen Körper rückblickend so gut verstehen, wieso er vor vier Jahren, als ich begann wieder regelmässig und genug zu essen, mit Gewichtszunahme reagierte. Er hatte kein Vertrauen mehr in mich. Kein Wunder, hätte ich auch nicht, denn woher sollte er wissen, dass es nicht nur eine Phase war, sondern ich wirklich etwas verstanden hatte und von nun an alles anders machen wollte.

So viele Jahre hatte ich ihm nicht vertraut. Hörte in den allermeisten Fällen nicht darauf, wenn er mir signalisierte, dass er Nahrung benötigte. Ich ignorierte ihn und seine Signale. Ich hatte kein Vertrauen in ihn und jetzt hatte er kein Vertrauen mehr in mich.

Erst mit der Zeit vertraute er mir mehr und mehr und konnte die zusätzlichen Kilos Stück für Stück loslassen.

 

Wake up Call

Warum schreibe ich nun diese Zeilen?

Ich möchte dich aufwecken, wenn du selbst von einer Essstörung betroffen bist und dich für das Thema sensibilisieren, wenn du bis dato noch nichts mit der Thematik zu tun hattest.

Meine Intention ist es, wenn du tatsächlich eine betroffene Person bist, dass dieser Post dein Wake up Call ist. Indem uns nämlich unser eigenes Verhalten, unsere eigenen Gedanken gespiegelt werden, können wir oftmals wirklich erst erkennen, in welcher Misere wir uns befinden.

Als ich vor einigen Jahren in einer Zürcher Modelagentur sass, meinte eine Mitarbeiterin der Modelagentur, dass ich noch weiter abnehmen müsse. Das war ja noch irgendwie zu erwarten, als sie mir aber anhand konkreter wahnwitziger Vorschläge erklärte, wie ich die Gewichtsabnahme vorantreiben könne, fragte sich sogar mein damaliges essgestörtes Ich:

«Was ist das hier für eine kranke Scheisse?»

Ich hoffe, dieser Blogpost ist das für dich, was der Modelagentur-Moment für mich war:

Ein Wake up Call.

Ich wünsche mir, dass die Gedanken meines essgestörten Ichs, in denen du dich vielleicht wiedererkennst, dich wachrütteln, weil sie ebenso deine eigenen sind.

 

Es gibt einen Weg

Ich schreibe dir diese Zeilen aber auch, um dir mitzuteilen, dass es einen Weg heraus aus diesem Alptraum gibt. Du bist nicht deine Essstörung. Du kannst sie Stück für Stück ablegen. Und auch, wenn manche vielleicht etwas anderes behaupten, bin ich doch davon überzeugt, dass man eine Essstörung vollständig gehen lassen kann. Denn aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass mein essgestörtes Ich von damals kein Teil meines heutigen Lebens ist. Ausser manchmal in der Erinnerung an das, was war.

 

Deine Heilung

Ich möchte dir mit diesem Post sagen:

Kümmere dich um dich & nimm deine Bedürfnisse ernst.

Kümmere dich um deinen Körper, sei dankbar für ihn und was er alles schon für dich getan hat, obwohl du nicht immer gut zu ihm warst.

Sei gnädiger mit dir und verzeih dir Fehler und Imperfektion. Du, wie jede/r andere auch ist perfekt, weil sie/er unperfekt ist und das ist wundervoll. Wir sind Menschen und keine Roboter und das ist unsere Stärke.

Fang endlich an, dich (vor allem an gesunden Lebensmitteln) satt zu essen und höre auf Kalorien zu limitieren. Höre auf deinen Körper und darauf, was er braucht. Lass keine Mahlzeiten mehr aus. Dein Körper braucht Nahrung, ohne sie kann er nicht funktionieren. Er wird sich sonst immer zurückholen, was du ihm zuvor vorenthalten hast, zum Beispiel in Form von Essanfällen. Ganz einfach, weil er dich retten will. Vertraue ihm, er ist auf deiner Seite. Auch, wenn du manchmal nicht das Gefühl hast, da er dich vielleicht mit Essanfällen enttäuscht. Aber selbst mit diesen dient er dir, denn nichts ist ihm wichtiger als dein Leben.

Wenn du Sport machst, dann tue es aus Liebe zu dir und deinem Körper und nicht, um ihn dünner und dünner werden zu lassen. Wenn du dich beim Sport quälst, deine Workouts kaum durchhältst, da du dich und deinen Körper viel zu sehr forderst, dann ist es jetzt an der Zeit damit aufzuhören. Sport sollte ein Geschenk für deinen Geist und deinen Körper sein, ihnen dienen und keine Kasteiung für deinen gesamten Organismus darstellen.

Fang an genug zu schlafen, zu meditieren und deine Verletzungen aufzuarbeiten. Widme dich deiner persönlichen Weiterentwicklung, fang an deine Gedanken auf einer täglichen Basis aufzuschreiben und somit nach und nach deinen seelischen Ballast loszulassen. Praktiziere Selbstliebe, indem du dir jeden Morgen und jeden Abend, wenn du in den Spiegel schaust, sagst, dass du dich liebst und welche Dinge du an dir schätzt.

Nutze Nahrung, Sport, Massagen, alternative Medizin, positive Gedanken oder was auch immer dir guttut, um deinen Körper und deine Seele zu heilen. Suche dir einen Psychologen oder einen Life Coach, wenn du das Gefühl hast, dass du Unterstützung auf diesem Weg brauchst. Das ist völlig in Ordnung, auch ich habe Unterstützung in Anspruch genommen. Es lohnt sich wirklich, sich intensiv mit der eigenen Heilung zu beschäftigen, denn es liegt noch ein ganzes Leben vor dir, das in vollen Zügen gelebt werden möchte.

Es liegt einzig und allein in deiner Macht dich zu heilen. Du schaffst das! Und wenn du dir allein momentan nicht als Antrieb reichst, dann denke an deine zukünftigen Kinder, wenn du eines Tages welche haben möchtest und frag dich:

 

Möchte ich, dass sie mich so erleben?

Möchte ich, dass sie meine fehlende Selbstliebe oder mein gestörtes Essverhalten übernehmen?

Möchte ich, dass sie eine Mama oder einen Papa an ihrer Seite haben, die/der nicht in ihrer/seiner vollen Kraft steht?

 

Vermutlich möchtest du all das nicht.

Lass das dein Antrieb sein.

 

Mut

Ich weiss, es braucht Mut um loszugehen, um die eigene Heilung in Angriff zu nehmen. Denn so verrückt es klingt, irgendwie ist die eigene Essstörung auch eine Art Comfort Zone. Man weiss, was man hat, auch wenn es nicht besonders toll ist.

Wenn man diese Comfort Zone verlässt, fragt man sich:

 

Werde ich zunehmen?

Wie lange wird es dauern bis ich wieder abnehme?

Wer werde ich ohne meine Essstörung sein?

 

Diese und weitere Fragen gehen einem durch den Kopf. Mir natürlich auch.

Doch ich war mutig und habe mich in meinen Heilungsprozess begeben. Nicht, weil ich keine Angst hatte vor all dem, sondern weil ich noch mehr Angst hatte, mein Leben lang in meinem ganz eigenen Gefängnis aus destruktiven Gedanken und Selbsthass gefangen zu sein.

 

Mutig zu sein, heisst nicht, keine Angst zu haben, sondern sie zu überwinden.

 

 

Ich kann definitiv sagen, es war nicht immer einfach, aber es hat sich gelohnt, mutig zu sein. Ich durfte in meinem Heilungsprozess wachsen und mich einer meiner grössten Ängste stellen: der Zunahme.

Ich würde diesen Weg immer wieder gehen, auch wenn ich wüsste, wie viel ich (zunächst) zunehmen würde. Denn mit meinen Schritten in Richtung Heilung habe ich endlich angefangen mich um meinen Körper zu kümmern, wie er es verdient hat.

Heute, vier Jahre nach dem Beginn meines Heilungsprozesses geht es mir so gut, wie nie zuvor in meinem Leben und auch innerhalb dieser letzten vier Jahre ging es mir besser als je zuvor. Ich möchte ehrlich sein, natürlich war es nicht immer einfach. Es war auch nicht besonders toll zuzunehmen, aber mein Körper brauchte genau das. Und ich kann es ihm nicht verübeln, schliesslich wusste er nicht, ob und wann die nächste Hungerkur auf ihn wartet.

Als mein Körper aber wieder Vertrauen zu mir gefasst hatte, lies er das zugenommene Gewicht nach und nach los, ohne dass ich dafür hungern musste oder muss. Und eines möchte ich anmerken, bei deinem Heilungsprozess geht es um mehr als nur Gewichtszu- oder abnahmen. Es geht darum, Frieden mit deinem Körper zu schliessen, ihn zu heilen, gut auf ihn aufzupassen, dich selbst zu lieben und bei dir anzukommen, um ein langes, gesundes und glückliches Leben leben zu können.

 

Sei mutig und geh los, für dich, deine Gesundheit und dein Glück.

 

Hast du ähnliche Erfahrungen gemacht? Befindest du dich schon im Heilungsprozess der Essstörung oder bist du kurz davor dich auch diese Reise zu begeben?

 

Lass es mich gerne in den Kommentaren wissen.

 

Alles Liebe,

 

Deine Anna

 

Photos by Marc Kästner