Wie der Veganismus mich gerettet hat
Im Juni 2015, kurz vor meinem 26. Geburtstag, entschied ich mich Veganerin zu werden. Bis zu diesem Zeitpunkt begleiteten mich seit 11 Jahren unterschiedliche Formen der Essstörung, viele Unsicherheiten und, aus heutiger Sicht gesehen, auch viel Selbsthass. Während ich die ersten Jahre meiner Essstörung als "reine" Magersucht bezeichnen würde, so änderte sich meine Essstörung im Laufe der Zeit dahingehend, dass sich das Hungern mit Fressanfällen abwechselte – ein Teufelskreis. Erst eine ganze Zeit später fand ich heraus, dass dieses Verhalten als Binge Eating bezeichnet wird.
Damals war es eine Erleichterung für mich herauszufinden, dass auch andere dieses Problem kannten. Denn zum damaligen Zeitpunkt glaubte ich, ich sei einfach nicht mehr diszipliniert und stark genug. Das Hungern, wie ich es über die Hälfte der Zeit meiner Essstörung praktizierte, legte ich mit den Jahren mehr und mehr ab, weil ich im tiefsten Inneren realisierte, dass es falsch war.
Ich begann zwar mehr zu essen, doch es war immer noch nicht genug. So dass mein Körper weiter nach Fressanfällen verlangte.
Aus heutiger Sicht, ist mir dies nun klar. Damals hatte ich das Gefühl, die Essanfälle kämen einfach nur, damit ich meine negativen Gefühle mit Essen abmildern konnte. Obwohl es auch schon damals so war, dass diese Abmilderung nur recht kurzweilig war und vom schlechten Gewissen und Schuldgefühlen abgelöst wurde. Den Grossteil meiner Essstörung folgten auf solche Fressanfälle Phasen des Hungerns. Niemals hätte ich zu diesem Zeitpunkt angenommen, dass mein Körper einfach nach Nahrung verlangte, da ich sie ihm all die Jahre grösstenteils versagte.
Der erste vegan-Versuch
Bevor ich mich entschied, mich von nun an nur noch vegan zu ernähren, hatte ich es schon ca. zwei Jahre probiert, weitestgehend vegan zu essen. Zur damaligen Zeit war ich durch Attila Hildmann auf die vegane Ernährungsweise aufmerksam geworden. Ich kaufte seine Kochbücher und kochte viel danach. Auf diese Weise nahm ich an ca. sechs von sieben Tagen die Woche hauptsächlich vegane Nahrung zu mir.
Schon zum damaligen Zeitpunkt war ich keine grosse Fleischesserin. Wobei man sagen muss, dass ich kurz bevor ich Veganerin wurde, so gerne Fleisch ass, wie nie zuvor in meinem Leben. Wenn auch nur ungefähr einmal pro Woche, nämlich zum Sonntagsessen, das mein Freund und ich auch heute noch zelebrieren, nun allerdings mit veganem Essen. Die vegane Ernährung war für mich schon zu dieser Zeit aus ethischer Sicht absolut einleuchtend, trotz dessen hatte es jedoch noch nicht "Klick" gemacht. Ich nahm zu dieser Zeit also weiterhin regelmässig Fleisch und auch Käse zu mir. Meine Essstörung und mit ihr die Fressanfälle blieben.
Damals hatte ich schon den Youtube-Kanal Jillicious Journey entdeckt, auf dem Jill von ihrer "High Carb – low fat"- und "raw till 4"- Ernährung berichtete. Eine pflanzliche Ernährungsweise, die zum einen vor allem auf Kohlenhydrate und nur zu einem geringen Anteil auf Fette und Proteine baut ("High Carb – low fat"). Zum anderen vor allem aus rohem Obst und Gemüse bestand ("raw till 4"). Schon zu dieser Zeit sprach mich diese Ernährungsweise an, da ich mich immer schon für gesunde Ernährung interessierte.
Wobei ich rückblickend sagen muss, dass ich mich die meiste Zeit meines Lebens nicht besonders gesund ernährt hatte, obwohl ich zum damaligen Zeitpunkt eine andere Empfindung hatte. Ich begann, mich mehr und mehr mit der "High Carb – low fat"- und "raw till 4"- Ernährung, aber auch Gründen für eine vegane Lebensweise zu beschäftigen. Ich schaute Dokus und verschiedenste Youtube-Videos, die mir Hintergrundinformationen dazu lieferten, weshalb die Entscheidung für eine vegane Lebensweise sinnvoll wäre.
Je mehr ich mich darüber informierte und erfuhr, wie gesund man sich im Rahmen einer veganen Ernährungsweise ernähren konnte und vor allem auch, dass Menschen mithilfe der veganen Ernährung ihre Essstörung besiegt hatten, nun so viel assen, wie sie wollten und trotzdem schlank waren, weckte mein Interesse.
Je mehr ich über die Thematik lernte, desto mehr leuchtete mir auch ein, dass es in ethischer Hinsicht für das Tierwohl tatsächlich keine Alternative als den Veganismus geben konnte.
Innerhalb meiner Recherchen fand ich ebenso heraus, dass es zumindest bei einem Teil derjenigen, die ihre Essstörung mit der veganen Ernährung heilen konnten, zu einer (temporären) Gewichtszunahme gekommen war. Für viele, wahrscheinlich nicht nur für Personen mit einer Essstörung, wäre diese mögliche Aussicht nicht besonders schön. Dies galt auch für mich, doch mittlerweile war ich an dem Punkt angelangt, an dem ich es nur noch leid war, eine Essstörung zu haben, die meine Gedanken, meinen Selbstwert, meine Stimmung und mein Essen bestimmte und letztendlich Einfluss auf mein ganzes Leben hatte.
Ich wollte gesund sein, weder hungern, noch weiterhin von Fressanfällen geplagt sein. Ich wollte mich gesund ernähren, ich wollte mich satt essen und ich wollte endlich eine langfristige Lösung für dieses Problem, das mich seit meinem 15. Lebensjahr begleitete.
Denn kurzfristige Lösungen und Wege, die zumindest zu einer Reduktion der Fressanfälle führten, kannte ich schon. Doch einen Weg die Essstörung vollständig abzulegen, fand ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht.
No Risk - No Fun?
Mittlerweile war ich an dem Punkt angekommen, das Risiko, zuzunehmen, vielleicht sogar erheblich zuzunehmen, eingehen zu wollen.
Denn ich wollte nicht mehr essgestört sein, ich wollte mich nicht mehr darüber definieren, ich wollte gesund werden und frei sein, frei von der Omnipräsenz der Essstörung in einem Leben.
Also wagte ich den Schritt, angetrieben von der Hoffnung, dass mein Leben besser werden würde durch diese Veränderung. Mein Ziel war nun keine kurzfristige Abnahme mehr, bis zu irgendeiner Party oder irgendeinem Familienfest. Mein Ziel war es, die Essstörung abzulegen, mich sattessen zu können und langfristig gesund und schlank zu sein.
Nachdem ich den Entschluss gefasst hatte, mich vegan ernähren zu wollen (im Sinne von "High Carb – low fat"- und zum Teil auch "raw till 4"), sagte ich den Menschen in meinem Umfeld noch, dass ich die vegane Ernährung nur mal ausprobieren wolle und keine Lust auf Sprüche hätte, sollte ich meine Meinung wieder ändern. Relativ bald merkte ich allerdings, dass ich ganz sicher nicht mehr zurück wollte zu der konventionellen Ernährungsweise. Im Gegenteil, ich realisierte sogar, dass ich mich nicht nur vegan ernähren, sondern auch vegan leben wollte.
Der Veganismus hatte etwas in mir ausgelöst, was ich niemals vorhergesagt hätte.
Schon ab dem ersten Tag meiner vollwertigen, pflanzlichen Ernährung merkte ich, dass meine Essanfälle, die mich jahrelang begleitet hatten, ausblieben. Sie kamen nicht wieder. Das grenzte für mich an ein Wunder und tut es rückblickend irgendwie auch heute noch. Ich kann tatsächlich sagen, dass ich meinen letzten Essanfall hatte, bevor ich mich komplett vegan ernährte.
Ich ass mich nun satt, ernährte mich so gesund, wie nie zuvor und vor allem hatte ich Spass am Essen. Ein Gefühl, das mir in diesem Zusammenhang bis dato nicht bekannt war.
Ich fühlte mich fitter, meine Fingernägel wurden härter und wuchsen so schnell, wie ich es niemals zuvor erlebt hatte. Früher dachte ich immer, ich hätte von Natur aus brüchige Nägel. Ein Trugschluss, wie sich herausstellte. Auch meine Haare wuchsen wieder nach und meine Verdauung wurde erheblich besser.
Danke, Gewichtszunahme!
Etwas, das die meisten wohl als negativen Aspekt verstehen würden, war meine Zunahme. Ich möchte ehrlich sein, auch ich hätte diese Entwicklung, zumindest zum damaligen Zeitpunkt, lieber ohne Gewichtszunahme durchgemacht. Obwohl ich schon zu dieser Zeit wusste, dass mein Körper diese zusätzlichen Kilos braucht, um zu heilen. Irgendwie schätzte ich diese Zunahme auch, zumindest zu Beginn, weil ich sie als Teil meiner Gesundwerdung ansah. Und obwohl ich den Entschluss, mich vegan zu ernähren als eine der besten Entscheidungen meines Lebens bezeichne, so kann ich doch behaupten, dass es nicht einfach war, immer weiter zuzunehmen.
Aus heutiger Sicht war und ist die Gewichtszunahmen wohl eine der wertvollsten Dinge, die mir in meinem Leben bisher passiert ist.
Nicht nur haben die zusätzlichen Kilos dafür gesorgt, dass ich mich seither mit der Thematik der Selbstliebe, aber auch der Persönlichkeitsentwicklung beschäftige, sondern auch mehr und mehr zum Kern meines wahren Ichs und was ich wirklich in meinem Leben erleben und erschaffen möchte, vordringen konnte.
Ergänzen muss ich an dieser Stelle, dass ich mich zumindest zum Teil, in der Vergangenheit über mein Äusseres definiert hatte. Auch Menschen, die mich kannten, denke ich, nahmen mich zwar nicht nur als "hübsch" war, und doch würde ich sagen, dass ich, ebenso durch sie, ein Stück weit über diesen Begriff definiert wurde. Wahrscheinlich auch dadurch, dass ich nebenher modelte.
Durch meine Zunahme hatte ich das Gefühl, diesem Begriff nicht mehr im gleichen Umfang gerecht zu werden. Denn, zumindest auf meine Person bezogen, nahm ich die zusätzlichen Kilos nicht als schön wahr. Ich hatte das Gefühl, ich hätte einen Teil meiner Identität verloren.
Heute kann ich sagen, dass ich durch diese Entwicklung, erst meine Identität (wieder)finden konnte, auch wenn oder gerade, weil dieser Weg nicht immer einfach war.
Bye Bye Essstörung - Hallo neue Gedanken
Plötzlich war ausserdem Raum für Gedanken neben dem Essen, der zuvor eingenommen war von Überlegungen, ob man sich nun beispielsweise erlauben konnte zu essen oder nicht. Ich hinterfragte gesellschaftliche Strukturen, Werte und Normen. Von da an gab es für mich zum Beispiel keine "Nutztiere" mehr. Ich verstand, dass kein einziges Tier dafür da ist, um mir zu dienen, in welcher Form auch immer, ob als Steak auf meinem Teller oder als Belustigung im Zoo.
Aber ich hinterfragte auch andere Themen, die oftmals gar nichts mit der veganen Lebensweise zu tun hatten, wie beispielsweise meinen Alkoholkonsum, die Einnahme der Pille oder mein Konsumverhalten.
Der Veganismus war für mich ein Tor zu so vielen weiteren Thematiken, die zuvor, ohne grosse Reflektion, ein Teil meines Lebens waren und die ich nun nach und nach zu hinterfragen begann.
Wenn ich heute auf über 3 ½ Jahre als Veganerin zurückblicke, dann ist es voller Dankbarkeit und Liebe für diesen Prozess.
Denn ja, der Veganismus hat mich gerettet.
Er hat mir gezeigt, dass ich mich sattessen kann, dass ich die Essstörung wirklich besiegen kann, dass es im Leben um so viel mehr geht als einfach nur schön zu sein und dass jeder von uns einen Teil dazu beitragen kann, dass die Welt ein besserer Ort wird. Denn eines habe ich gelernt, nicht nur ich, sondern auch jedes andere Wesen auf diesem Erdball, möchte leben und glücklich sein:
We all matter.
Was sind deine Ansichten zu dem Thema? Hattest oder hast du eine Essstörung und wenn ja, was hat dir geholfen / was hilft dir? Wie stehst du zum Veganismus?
Ich freue mich auf deinen Kommentar!
Alles Liebe,
Deine Anna
Inwiefern Spiritualität und eine vegane Lebensweise Hand in Hand gehen, beziehungsweise wie der Veganismus dazu beitragen kann deine spirituelle Praxis auszuweiten, erfährst du in diesem Blogpost.