Wieso ich aufhörte mich zu schminken und wieso ich wieder damit anfing

Bis vor einigen Jahren gehörte das tägliche Schminken zu meiner alltäglichen Routine dazu. Ich wäre zum damaligen Zeitpunkt niemals ohne Make up zur Uni oder Arbeit gegangen. Ohne Schminke hätte ich mich damals wahrscheinlich nackt gefühlt. Ich weiss noch, dass ich mich früher mehr mit meinem geschminkten Ich als mit meinem ungeschminkten Ich identifizieren konnte.

Ungeschminkt empfand ich mich auch nicht als schön. Eher sah ich mein Gesicht als eine Art Leinwand, die man anmalen kann, damit sie schöner oder gar zu einem Kunstwerk wird. Rückblickend, realisiere ich erst, wie hart ich mit mir und meinem Äusseren ins Gericht gegangen bin und ich finde es erschreckend, denn es lässt erkennen, dass die Liebe zu mir selbst nicht besonders gross war.

Ich werde nie vergessen, wie mein Freund und ich vor ein paar Jahren mit einem befreundeten Pärchen mit VW-Bussen Portugal bereisten und meine Freundin in einem Gespräch zu mir meinte, dass ich auch ohne Make up hübsch sei.

Ganz ehrlich, ich habe mich sehr über diese Aussage ihrerseits gefreut, aber es war als hätte mir gerade jemand erzählt, dass die Welt über Nacht vegan geworden sei. Ich empfand die Aussage als wirklich schön, aber ich konnte sie kaum glauben. Ich weiss noch, dass ich sie anschliessend fragte, ob sie das wirklich so sähe. Glaube mir, das war keine Koketterie oder Fishing for compliments. Für mich war es einfach eine völlig neue Vorstellung, dass man mich anscheinend auch ohne Schminke als schön empfinden konnte.

Der Versuch

Im Zusammenhang mit dem vegan werden, kam ich an den Punkt, dass ich mich nicht nur mit meinem ungeschminkten Spiegelbild identifizieren können wollte, sondern es auch lieben wollte. Ich wollte mich ungeschminkt, schätzen und lieben lernen. Ich beschloss deshalb, zumindest so lange damit aufzuhören, mich zu schminken, bis ich mich mit meinem ungeschminkten Ich angefreundet hatte und mich mit ihm identifizieren konnte.

Zur Uni und eigentlich auch sonst überall hin, ging ich von nun an ungeschminkt. Mit einer Ausnahme, zu meiner Arbeit in einer Bank ging ich nach wie vor geschminkt. Ich empfand die Schminke in diesem Rahmen als eine Art Uniform, die für mich einfach dazugehörte, aber auch als Schutz. Irgendwann als ich mich sicherer fühlte mit meinem ungeschminkt sein, verzichtete ich in diesem Kontext ebenfalls auf Schminke.

Eine wunderschöne Errungenschaft

Und tatsächliche lernte ich mein ungeschminktes Gesicht nicht nur besser kennen, sondern lernte es auch lieben. Plötzlich war das Bild, das ich von meiner Person hatte, nicht mehr das mit einem geschminkten, sondern mit einem ungeschminkten Gesicht. Ich musste nicht mehr geschminkt sein, damit ich mich annehmen konnte. Für viele wahrscheinlich das normalste Gefühl der Welt. Für mich war es eine wunderschöne, ganz besondere neue Errungenschaft.

Gesellschaftlicher Druck

Im Zuge meines Nicht-Schminkens kam ich für mich zu der Erkenntnis, dass von Frauen eher erwartet wird, geschminkt zu sein und ihre «Makel» abzudecken, während es bei den Männer genau anders herum ist. Die Gesellschaft übt bei ihnen vielmehr den Druck aus, sich nicht zu schminken und zu ihren «Makeln» zu stehen. Es soll hier gar nicht darum gehen, wer es in der Gesellschaft besser oder schlechter hat. Denn je nach dem, denke ich, kann beides schwierig sein.

Wenn man zum Beispiel als Frau auf Schminke verzichtet, aber den gesellschaftlichen Druck spürt, sich beispielsweise bei der Arbeit geschminkt zu zeigen. Oder wenn man als Mann Make up nutzt und deswegen ständig kritisch beäugt oder deshalb sogar verbal angegangen wird. An dieser Stelle hilft wohl nur mehr Toleranz - uns und anderen gegenüber.

Am Ende des Tages hilft mehr Toleranz doch nicht nur den anderen, denen wir die Toleranz entgegenbringen, sondern uns allen. Denn ich bin absolut überzeugt, dass Menschen in einem Umfeld, in dem sie sich toleriert fühlen, wiederum auch toleranter ihren Mitmenschen gegenüber sein können.

Ich für meinen Teil kann sagen, dass ich mich vom gesellschaftlichen Druck nicht hab unterkriegen lassen. Ich war ungeschminkt in der Uni, schlussendlich auch bei der Arbeit, bei Geburtstagen und Feiern, in Clubs und auch mein komplettes Auslandssemester in Australien habe ich ungeschminkt verlebt. Überall dort zeigte ich mich mit meinen Makeln und das fühlte sich nicht immer nur gut an. Denn ich hatte durch das Absetzen der Pille teilweise keine so schöne Haut. Doch trotzdem oder gerade deswegen wollte ich kein Make up auf meine eh schon beanspruchte Haut knallen. Ich war zum Teil schick gekleidet für irgendwelche Feiern und trotzdem blieb ich ungeschminkt.

In diesem Zusammenhang stellte ich auch für mich fest, dass von einer Frau bei schickeren Anlässen nicht nur erwartet wird, dass sie sich dem Anlass entsprechend kleidet, sondern sich auch dementsprechend schminkt. Bei Männern reicht es hingegen aus, sich schicker zu kleiden. Aber auch in diesem Fall gilt: Wir können Einfluss nehmen. Wir sind die Gesellschaft, ich genau wie du und wir können diese Erwartungen und diesen Druck Stück für Stück abbauen, indem wir uns diesen Erwartungen widersetzen, wenn wir es denn wollen.

Darauf liegt die Betonung: Wenn wir es denn wollen.

Die Motivation hinter dem Make up-Verzicht

Mir war es zum Beispiel, ganz besonders eine Zeit lang, sehr wichtig, mich zu zeigen, wie ich war, mit allen meinen Makel, um mich selber von diesem Druck zu lösen, immer «perfekt» aussehen zu müssen. Auch heute habe ich kein Problem damit ungeschminkt durch die Weltgeschichte zu laufen, auch wenn meine Haut vielleicht gerade unrein ist.

Heute bin ich allerdings nicht mehr ungeschminkt, weil ich das Gefühl habe, dass ich eine politische Message verbreiten müsste oder weil ich lernen müsste, mich ohne Make up zu lieben. Nope! Mittlerweile bin ich die meiste Zeit ungeschminkt, einfach weil ich Bock darauf habe und weil ich mich damit fantastisch fühle.

Die heutige Motivation hinter dem Schminken

Aus den gleichen Gründen schminke ich mich übrigens ab und zu auch wieder. Weil es mir Spass bringt, ich würde sagen, mehr als jemals zuvor und weil ich mich damit wunderbar fühle. Heute ist das Schminken keine Pflichterfüllung oder kein Muss mehr, sondern eine Art Kunst, die ich nutze, um mich in meinem Gesicht kreativ auszuleben, passend zu den Outfits, die ich gerade trage. Dafür nehme ich mir dann auch gerne bewusst Zeit, einfach weil ich den Prozess des Schminkens in solchen Momenten sehr liebe.

Am Ende des Tages weiss ich aber, wer ich wirklich bin, und das ist die Anna mit dem nackten frisch gewaschenen Gesicht und das finde ich mittlerweile auch echt gut so.

Solltest du dich an dem Punkt befinden, dich mehr mit deinem geschminkten Ich identifizieren und dich geschminkt mehr lieben zu können als ungeschminkt, dann empfehle ich dir, zumindest eine Zeit lang auf Make up zu verzichten, um dich so wie du bist, ohne all die Schminke, wieder lieben zu lernen.

Wäre diese kleine Challenge was für dich?

Sei du selbst und lass dir von niemandem erzählen, das daran irgendetwas falsch ist.

Und ganz allgemein würde mich interessieren, ob du dich gerne schminkst oder ob du lieber darauf verzichtest. Verspürst du einen Druck dich zu schminken? Kannst du von dir sagen, dass du dich auch ohne Schminke liebst?

Lass es mich gerne in den Kommentaren wissen!

 

Alles Liebe,

Deine Anna