Vergebung als Befreiung
Obwohl ich mich nicht als nachtragende Person bezeichnen würde, habe ich Vergebung erst in den letzten Jahren so richtig für mich entdeckt. Vergebung bedeutete bis dato für mich, Menschen, die sich für einen Fehler bei mir entschuldigten, zu verzeihen und das konnte und kann ich bis heute ziemlich gut.
Ich dachte, ich sei in dieser Hinsicht ziemlich gut unterwegs bis ich realisierte, dass ich zwar mit niemandem in meinem Leben direkt Streit hatte, aber sehr wohl Vorwürfe und zum Teil sogar Groll gegen bestimmte Personen in meinem Leben (zum Teil sogar verstorbene Personen) in mir trug. Es ging dabei nicht um konkrete Streitigkeiten, denn solche klärte ich immer schon recht schnell. Es ging viel mehr, um Konflikte, die nicht offen ausgetragen wurden oder konnten oder um Verhaltensweisen von Personen, die mir immer missfielen, auf die ich allerdings aus unterschiedlichsten Gründen keinen Einfluss nehmen konnte.
Eltern & Kinder
Nehmen wir mal das klassische Beispiel der Eltern. Jedes Kind der Welt, selbst wenn es ein noch so tolles Elternhaus hat, könnte wahrscheinlich die ein oder andere Sache nennen, die es sich in der Erziehung durch seine Eltern anders gewünscht hätte. Mittlerweile glaube ich sogar, dass diese Beurteilung gar nicht so abhängig vom Erziehungsstil der Eltern ist. Hingegen denke ich, dass jedes Kind im Laufe der Jahre eigene Vorstellungen davon entwickelt, wie die «perfekte» Erziehung oder das «perfekte» Aufziehen von Kindern auszusehen hätte.
Sicher auch, weil wir wenig Einfluss darauf haben, wie unsere Eltern uns aufziehen. Es gibt keine halbjährlichen oder jährlichen Feedbackgespräche mit Mama und Papa, so nach dem Motto: «Papa, deine Kochkünste sind schon ganz gut, aber in der Kommunikation mit uns Kindern könntest du noch eine Schippe drauflegen» oder: «Das mit dem Aufräumen klappt schon super, Mama, aber an deiner Stressresistenz solltest du dringend arbeiten.» So läuft es halt nicht. Vielleicht haut man den Eltern gegenüber mal etwas raus, wie: «Ich finde es zum Kotzen, dass ihr mir nicht mehr Taschengeld gebt.» oder: «Eure ganzen Verboten sind einfach beschissen».
Aber am Ende ist es den meisten Eltern vermutlich eher egal, wie wir ihre Erziehungspraktiken finden, so lange sie mit ihnen zufrieden sind. Das soll jetzt auch kein Rundumschlag gegen Eltern sein! Im Gegenteil, ich glaube, Eltern zu sein, ist ein verdammt harter Job und ich bin ziemlich überzeugt davon, dass 99% der Eltern nur das Beste für ihre Kindern wollen und ihr Bestes in Sachen Erziehung geben.
Aber hier soll es auch gar nicht so sehr um Eltern gehen. Viel mehr möchte ich mit meiner Beschreibung der Eltern-Kind-Problematik darauf hinaus, dass es Bereiche in unserem Leben gibt, in denen wir machtlos sind oder weniger Macht als nötig besitzen, um wirklich etwas an unserer Situation verändern zu können. Gerade diese Bereiche sind prädestiniert dafür, dass sich Gefühle, wie Groll, Ärger und Unverständnis in uns entwickeln, die es im besten Fall loszulassen gilt.
Eltern vergeben
Um nun auf den Punkt zu kommen: Auch ich trug Vorwürfe gegen meine Eltern in mir. Ein Beispiel war der Vorwurf, dass ich zu wenig Freiheiten hatte. Ich möchte hinzufügen, dass ich ein absolut freiheitsliebender Mensch bin oder vielleicht sogar erst durch die Grenzen und Verbote wurde. Ich verstand schon damals, warum ich nicht zu Parties und in Clubs gehen durfte. Meine Eltern hatten Angst um mich. Dabei ging es gar nicht so sehr darum, dass sie Sorge hatten, dass ich irgendwas Dummes anstellen oder konsumieren könnte. In ihrer Vorstellung war mein feiern gehen eng verbunden mit möglichem Missbrauch oder Gewalt allgemein. Sorgen, die wahrscheinlich vor allem Eltern kennen.
Irgendwann habe ich auf jeden Fall meine inneren Vorwürfe ihnen gegenüber in ganz alltäglichen Momenten bemerkt. Kennst du das, wenn man in einem ganz normalen Gespräch mit jemandem ist und unglaublich schnell wegen Kleinigkeiten gereizt ist? Ich hatte genau das. Als mir das einmal bei einem Besuch bei meinen Eltern auffiel, kotzte ich mich verbal bei meiner Mutter so richtig aus.
Was meinst du, wie sie reagiert hat? Sie war in Tränen aufgelöst. Was denkst du, wie viel mir dieses Gespräch wohl auf lange Sicht gebracht hat? Nichts. Langfristig hat es mir nichts gebracht. Kurzfristig fühlte ich zwar eine gewisse Erleichterung, vielleicht auch eine gewisse Befreiung, aber beides war nicht von langer Dauer. Das Einzige, was ich aus dieser Konfrontation mitgenommen habe, ist, dass sie mich in Bezug darauf, Dinge aufzuarbeiten und abzuschliessen, nicht wirklich weitergebracht hat.
Heute weiss ich auch, warum. Ich hatte einfach meinen «Mist» bei meiner Mutter abgeladen. Erst einmal, ein logischer Schritt, weil ich diesen Mist auf meine Eltern zurückführte. Mittlerweile bin ich mir jedoch bewusst darüber, dass es sich dabei um einen zu kurz gefassten Gedanken handelte. Denn ich wollte im Aussen lösen, was ich im Inneren fühlte.
Versteht mich nicht falsch, es ist ganz sicher nicht verkehrt, mit der Person, von der man sich ungerecht behandelt oder verletzt fühlt, das Gespräch zu suchen. Ich bin absolut pro Kommunikation. Allerdings würde ich heute behutsamer mit meiner Mutter umgehen und ausserdem wüsste ich, dass das «verbale Auskotzen» allein nicht die Lösung meiner Probleme wäre, sondern höchstens ein Anfang, Dinge aufzuarbeiten.
Die richtige Arbeit beginnt, wenn man den eigenen Fokus weg von den Vorwürfen und hin zu der eignen Innenwelt richtet. Dort gilt es dann Frieden zu schliessen und loszulassen. Und zu vergeben.
Ich sag ja, das ist Arbeit.
Vergebung in 3 Schritten
Ihr denkt euch jetzt vielleicht: «Das klingt ja ganz nett, aber wie kann ich denn nun loslassen und vergeben?». In meinen Fall waren es drei Bereiche, die mir sehr geholfen haben.
Bei dem ersten Bereich handelt es sich um: Annahme. Es geht dabei darum, die Dinge anzunehmen, wie sie sind und nicht mit ihnen im Widerstand zu sein. Damit meine ich natürlich nicht, dass zum Beispiel die Frau, die von ihrem Mann geschlagen wird, dies einfach annehmen soll. Definitiv nicht. Denn wir können, dürfen und sollten, Verantwortung für unser Leben übernehmen.
Auf manche Dinge, wie zum Beispiel die Vergangenheit haben wir allerdings keinen Einfluss. Deswegen gilt es, diese im besten Fall anzunehmen.
Glaub mir, ich weiss, der Schritt der Annahme ist nicht leicht. Denn je nachdem, wie schlimm die Erfahrungen sind, die jemand gemacht hat oder wie gross die Verletzung war, wünschen sich viele diese ungeschehen zu machen. Absolut verständlich, aber so funktioniert das Leben (leider) nicht.
Mittlerweile bin ich überzeugt, dass die Dinge, die wir erlebt haben, uns nicht per Zufall geschehen sind.
Ich habe für mich erkannt, dass es die negativen Erfahrungen oder die schweren Zeiten waren, die mich gestärkt haben, die meine besten Eigenschaften hervorgebracht haben und die mir gezeigt haben, was ich in meinem Leben haben möchte und was nicht, aber auch wie ich sein möchte und wie nicht. Annahme bedeutet dabei nicht, die negativen Erfahrungen schönzureden, sondern zu akzeptieren, dass sie geschehen und damit ein Teil deines Weges sind. Mit diesem Schritt sparst du dir unglaublich viel Energie, die du sonst darauf verschwenden würdest in Widerstand mit deiner eigenen Geschichte zu gehen.
Der zweite Bereich umfasst, wie du die Person wahrnimmst, der du vergeben willst. Ich weiss noch, wie ich mir früher gewünscht hätte, meine Eltern hätten gewisse Dinge anders gemacht. Irgendwie hatte ich auch das Gefühl, dass Eltern Übermenschen sein müssen.
Bis ich realisierte, dass Eltern auch nur ganz normale Menschen sind, Fehler machen, eine Geschichte haben und durch diese geprägt wurden und immer noch werden.
Auch wurde mir klar, dass die grosse Mehrheit der Eltern nur das Beste für ihre Kinder wollen. Unsere Eltern wollen uns nicht damit verletzen, wenn sie uns, wie in meinem Fall, nicht feiern gehen lassen wollen, sondern sie wollen, dass es uns gut geht und uns nichts zustösst. Müssen wir diese Vorgehensweise nun cool finden? Nein, ich denke nicht. Aber wir können ein Verständnis dafür entwickeln, warum unsere Eltern so gehandelt haben.
Bei dem zweiten Bereich handelt es sich, um eine mildere, verständnisvollere Wahrnehmung von der Person, der ihr vergeben wollt. Warum hat Person XY wohl so gehandelt? Welche Geschichte hat die Person, die sie dazu gebracht hat, auf eine bestimmte Weise zu handeln? Wollte die Person mir wirklich bewusst schaden oder hat sie einfach nur ihr Leben gelebt und mich durch ihre Vorgehensweisen unbewusst verletzt? Reflektier das mal für dich und ich bin mir sicher, dass du in den allermeisten Fällen feststellen wirst, dass dich eigentlich niemand wirklich bewusst verletzen möchte.
Doch auch dann, wenn jemand dir bewusst geschadet hat, solltest du es dir wert sein, dieser Person über kurz oder lang zu vergeben. Denn eines habe ich relativ schnell bemerkt, wenn wir nicht vergeben, schaden wir vor allem uns selbst. Wir halten uns selber damit auf, indem wir uns wieder und wieder erzählen, wie sehr uns Person XY verletzt hat, warum sie unsere Vergebung nicht verdient hat und dass wir niemandem mehr vertrauen können, weil diese Person vor 10 Jahren unser Vertrauen missbraucht hat. Mit diesem Verhalten schadest du dir selbst leider am meisten. Deswegen tu dir den Gefallen und lass los.
Der dritte Bereich umfasst den eigentlich wichtigsten Part, nämlich die Vergebung. Wie vergibt man nun? Geht man zu der Person hin und sagt: «Ich vergebe dir»? Du kannst das auf jeden Fall so machen, daran ist im Prinzip nichts verkehrt. Ich habe es allerdings anders gemacht und ich bin auch überzeugt davon, dass es nicht notwendig ist, dass die Person, der du vergeben möchtest, anwesend ist oder davon weiss, dass du ihr vergibst.
Manche denken sich vielleicht auch, dass sich die Person doch erst entschuldigt haben muss, damit wir ihr vergeben können. Ich denke, das ist ein Trugschluss. Es mag manchem ein wenig helfen, wenn die Person sich entschuldigt, um ihr verzeihen zu können, aber notwendig ist es meiner Meinung nach nicht.
Ich sehe es eher so. Wenn ich jemandem verzeihe, nachdem er sich bei mir entschuldigt hat, ist das vielleicht, um in Fussballersprache zu sprechen, Bundesliga-Niveau. Wenn man allerdings vergeben kann, ohne eine vorherige Entschuldigung von der betreffenden Person zu erhalten, ist dies wohl als Champions League- Niveau anzusehen. Ich will euch nichts vormachen, die Champions League der Vergebung ist anstrengend, aber sie lohnt sich. Und um beim Fussball zu bleiben, auch ein Christiano Ronaldo muss trainieren.
Ich für meinen Teil habe seit ungefähr 1 ½ Jahren einen Vergebungsteil in meine morgendliche Meditationsroutine eingebaut. Ich habe mir anfangs die einzelnen Personen vorgestellt und nur zu ihnen gesagt, dass und wofür ich ihnen vergebe. Bei manchen Personen fühlte es sich relativ schnell richtig an, das zu sagen, bei anderen dauerte es länger, bis ich mir selbst glauben konnte, dass ich dieser Person wirklich vergebe.
Nachdem sich dieser erste Vergebungsschritt richtig anfühlte, fing ich irgendwann an, mich sogar für das zu vergebende Verhalten zu bedanken. Eine Formulierung könnte in diesem Zusammenhang beispielsweise so aussehen: «Liebe Lisa, ich vergebe dir deine Härte und gleichzeitig danke ich dir dafür, denn sie hat mich stark, sensibel, feinfühlig und empathisch gemacht». Ich empfehle dir, dich nicht direkt auch an diesen zweiten Schritt zu machen, da es doch gar nicht so einfach ist, sich für etwas zu bedanken, für das man jemandem vergeben möchte. Erst recht, wenn die Dinge, die man vergeben möchte, sehr schwerwiegend oder noch sehr aktuell sind. Lass dir Zeit und überfordere dich nicht.
Was ich dir allerdings ans Herz legen möchte, ist:
zu vergeben,
denn es macht wirklich frei.
Das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Selbst, wenn du es, wie ich machst und die Vergebungsarbeit nur im Inneren vollziehst, werden die Personen, denen du vergeben hast, es an deiner Einstellung ihnen gegenüber bemerken, dass du dich verändert hast. Ihnen wird auffallen, dass du vielleicht ruhiger, entspannter, weniger aggressiv ihnen gegenüber bist.
Vor allem aber, wirst du es in deinem Inneren spüren, dass dort wo vorher Groll und Hass waren, nun Annahme, Friede und vielleicht sogar Liebe zu finden sind. Letztendlich geht es bei der Vergebung genau darum, dass du dich freimachen kannst, von dem Groll, der dich innerlich beschwert.
Du musst dem anderen nicht seinetwegen vergeben, du kannst es ganz einfach für dich tun, damit du dich nicht von negativen Gefühlen innerlich vergiften lässt.
Let it go. Lass es los. Lass es gehen.
Was meinst du zu dem Thema? Fällt es dir schwer oder leicht zu vergeben? Hast du irgendwelche Vergebungsroutinen?
Ich freue mich auf deine Rückmeldung in den Kommentaren!
Alles Liebe,
Deine Anna
Herausfordernde Zeiten sind nicht einfach nur anstrengend. Herausfordernde Zeiten sind es, die uns förmlich dazu zwingen, in die Selbstreflektion zu gehen. Wie dir diese Selbstreflektion dienen kann, erfährst du in diesem Blogpost.