Anna Bagemiel - Deine Life Coachin, Paarberaterin & Eltern-/Familienberaterin

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Was es mich lehrte, Ausländerin zu sein & was auch du daraus lernen kannst

Als ich vor über 10 Jahren der Liebe wegen in die Schweiz zog, tat ich dies nicht nur voller Vorfreude und Dankbarkeit, sondern auch mit etwas Abschiedsschmerz, da ich Freund/innen und Familie hinter mir liess. Alles in allem war ich allerdings vor allem überglücklich, weil ich mit dem Mann meiner Träume leben konnte.

Ich kannte das Land durch meine bis dahin siebenjährige Fernbeziehung mit einem Schweizer und den damit verbundenen Besuchen sehr gut und hatte deshalb auch keine Angst vor diesem Schritt.

Im Jahr 2009 als ich mein Leben in der Schweiz begann, taten mir dies unzählige meiner Landsleute gleich. Nicht alle in der Schweiz waren happy über diese Entwicklung. Das merkte man, auch medial.

Neben der Angst davor, dass die gut qualifizierten Deutschen, der Bevölkerung die Jobs wegschnappen könnten, spielte auch hinein, dass die eher selbstbewusste und vergleichsweise laute Art, die man vom «Durchschnittsdeutschen» annahm, nicht unbedingt gerne gesehen wurde.

Diese Stimmung nahm ich wahr und ich muss ehrlich sagen, als gerade erst 20 Jahre alt gewordene junge Frau, ging sie nicht spurlos an mir vorbei - im Gegenteil. Ich wollte bloss nicht mit meiner Nationalität auffallen.

In Supermärkten fragte ich meinen Freund beispielsweise, nur wenn ich direkt neben ihm stand, mit leiser Stimme, ob wir noch genug Karotten, Gurken oder was auch immer zu Hause hatten, damit auch ja niemand mein hochdeutsch hörte. Und so traurig ich es heute auch finde, aber ich empfand meine Nationalität als etwas Schlechtes, als minderwertiger als die Schweizer Nationalität.

 

Heute weiss ich, dass das Quatsch ist, denn es gibt keine Nationalität, die besser oder schlechter als eine andere ist.

 

Leider hatte ich dieses Wissen damals noch nicht. Zumindest konnte ich es noch nicht auf mich selbst beziehen. Obwohl ich nie etwas gegen Ausländer/innen hatte oder ihre Nationalität als schlechter als meine einstufte.

Nun, da ich selber Ausländerin war, wollte ich bloss nicht negativ auffallen und genauso wenig wollte ich, dass meine Landsleute den Schweizer/innen negativ auffielen. Aus diesem Grund beäugte ich sie sehr kritisch und beurteilte innerlich streng, wie Schweiz-kompatibel ihr Verhalten war.

Mittlerweile weiss ich, dass mich das heute, wie damals nichts angegangen wäre und dass es auch etwas übergriffig ist, zu meinen, man dürfe sich ein Urteil erlauben, nur weil man aus dem gleichen Land stammt.

 

Ich erkannte mich zum ersten Mal so richtig als Deutsche/Norddeutsche.

Interessanterweise erst im Rahmen meines Umzuges in die Schweiz, denn vorher in Norddeutschland war ich die «grosse Braunhaarige» oder einfach Anna. Fortan war das Merkmal an mir, das für die meisten im ersten Moment am stärksten herausstach, meine Nationalität. Ich war von jetzt an, vor allem «die Deutsche».

Heute nehme ich diese Entwicklung nicht als etwas Schlechtes, sondern als Teil meines Selbstfindungsprozesses wahr. Heute weiss ich: Ich bin (Nord-)Deutsche und das ist völlig in Ordnung.

 

Ich konnte meine Nationalität so richtig erst im Kontext mit einer anderen Nationalität wahrnehmen.

 

Wir empfinden unsere Nationalität, unsere Kultur, unsere Religion als normal. Sehen sie als die Norm an. Doch so denkt jede Person, obwohl wir unterschiedliche kulturelle Hintergründe haben, verschiedenen Religionen angehören und aus unterschiedlichen Ländern kommen.

Was sagt uns das?

Wir alle wurden und werden unterschiedlich sozialisiert, aber eines haben wir ganz sicher gemeinsam. Nämlich, dass uns unsere Sozialisierung glauben lässt, dass wir allein die Norm leben. Doch es gibt nicht die eine Norm. So lange wir uns in der Gegend aufhalten, in der wir hauptsächlich sozialisiert wurden, gelten wir vielleicht noch als «normal», sobald wir jedoch diese Gegend verlassen, heben wir uns in unserer Art ab. Das ist nichts Schlechtes, absolut nicht.  

 

 

Es gibt schlicht und einfach nicht eine Art, «normal» zu sein. Wir sind alle «normal» auf unsere Art und könnten vom normal sein der anderen lernen. Das nenne ich: kulturelle Bereicherung.

Statt also andere Menschen für ihre, aus deiner Sicht, Andersartigkeit auszugrenzen, schau mit liebenden Augen und offenem Herzen hin und frage dich: Was würde die Liebe tun?

Vermutlich würde die Liebe mit offenen Armen empfangen, wer auch immer gerade zu ihr kommt.

Und wenn du dich, das gefragt hast, dann frage dich: Was darf ich lernen? Worin kann mir mein Gegenüber als Inspiration dienen?

Wenn wir alle anfangen würden uns diese Fragen zu stellen, statt zu verurteilen, dann würden wir diese Welt zu einem besseren und toleranteren Ort machen.

Rassismus beginnt schon dort, wo der Deutsche die Holländerin aufgrund der Nationalität verurteilt oder die Schweizerin den Deutschen. Rassismus ist dort zu finden, wo wir allen anderen, die von unserer nationalen Norm abweichen, das Gefühl geben, sie seien falsch.

Ich frage mich:

 

Warum können wir unsere Nähe, unsere Gemeinsamkeiten zu anderen Nationen nicht schätzen und gleichzeitig offen für ihre Andersartigkeit sein? Das eine schliesst doch das andere nicht aus.

 

Und wer legt schon fest, was “normal” ist. Und ist “normal” überhaupt erstrebenswert? Mehr zum Thema: “Gegen den Strom ist auch ein Weg”

Mit zwei Kulturen zu leben, ist ein grosses Geschenk, eine Bereicherung.

Es ist deswegen so bereichernd, weil es zum einen den eigenen Horizont erweitert und zum anderen, weil wir zwei Welten kennenlernen dürfen. Zwei Welten, von denen wir lernen dürfen und zwei Welten, aus denen wir für unseren eigenen Lebensentwurf das Beste kombinieren können.

Sollte ich eines Tages einmal Kinder haben, bin ich mir daher ziemlich sicher, dass sie in den Genuss der Schweizer und Deutschen Nikolaus-Tradition kommen werden. Das heisst, zum einen werden sie den Samichlaus (Nikolaus) und Schmutzli (Knecht Ruprecht) treffen und zum anderen werden sie ihre Stiefel vor ihre Zimmertüren stellen und sie morgens befüllt freudestrahlend wieder in Empfang nehmen können.

Genauso wird bei meinem Freund und mir zu Hause schweizerdeutsch und deutsch gesprochen und auch mein Hochdeutsch ist um einige schweizerdeutsche Wörter reicher. Im Schweizerdeutschen gibt es beispielsweise das Wort «Ausgang», wenn davon die Rede ist, feiern zu gehen. Im Deutschen gibt es dafür kein Nomen. Deswegen hört man mich auch im Hochdeutschen schon seit gefühlt 100 Jahren sagen: «Ich gehe heute Abend in Ausgang»

Beim Essen sieht es nicht anders aus. An Heiligabend geniessen wir nicht nur den in Deutschland typischen Kartoffelsalat und (Tofu-)Würstchen, sondern essen als Nachtisch ein Schweizer Dessert namens Vermicelles (Maronenpüree).

 

Es muss kein Entweder-oder sein, es kann ein schlicht und einfaches «Und» sein, das verbindet.

 

Ich bin unglaublich dankbar dafür, die Erfahrung, Ausländerin zu sein, machen zu dürfen. Ich wünschte, jede Person würde diese Erfahrung machen. Ganz einfach, weil es Verständnis & Empathie schafft.

Und ich rede dabei nicht vom Urlaub in einem anderen Land, ich rede vom Leben in einem anderen Land. Denn aus eigener Erfahrung weiss ich, es ist ein riesiger Unterschied, ob man Urlaub in einem Land macht, sich regelmässig dort aufhält oder dort lebt. Ich habe die Schweiz noch einmal ganz neu kennenlernen dürfen, als ich vor 10 Jahren herzog, obwohl ich das Land wirklich schon gut kannte.

Was ich mit diesem Post sagen will, ist:

Wenn du Ausländer/in in einem Land bist, lass dir niemals das Gefühl geben, du seist weniger liebenswert. Denn du bist unglaublich wertvoll. Behalte deine Wurzeln und sei offen für dein neues Land, lerne dazu, werde ein Teil des Landes, ein Teil des bunten Mosaiks.

 

Und: «Mix it up, Baby.» Kreiere dir einen kulturellen Mix, der dich glücklich macht und deine (beiden) Welten vereint.

 

Wenn du in einem Geburtsland lebst und Menschen mit unterschiedlichem nationalen und kulturellen Hintergrund begegnest, dann öffne dein Herz so weit du kannst. Versuche nicht, ihnen ihre Wurzeln zu nehmen, sondern zeige ihnen deine und interessiere dich für ihre. Diese Menschen sind keine Bedrohung deines Lebensstils, deines Landes, sie können eine Bereicherung sein, wenn du es zulässt.

 

Vertrauen und Liebe statt Misstrauen und Angst: damit machen wir die Welt zu einem (noch) besseren Ort.

 

Bist du Ausländer/in? Wie sind deine Erfahrungen und verknüpfst du beide Welten? Lass es mich gerne in den Kommentaren wissen. Es würde mich sehr freuen, deine Meinung zu dem Thema zu erfahren.

 

Viel Liebe,

Deine Anna

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Photo by Marc Kästner